Truppenübung „Zyklon 80“
Grundlagen für die Teilnahme an Übungen
Die Fallschirmjäger der NVA unterstanden direkt dem Kommando Landstreitkräfte und hatten somit eine gewisse Sonderstellung als einzige Kampftruppe, die in diesem Verhältnis stand. Die Ausbildung des jeweils folgenden Jahres wurde aufgrund der gültigen Dokumente, Dienstvorschriften usw. und der Anordnung 20 des Stellvertreters des Chefs der Landstreitkräfte und Chef Ausbildung organisiert. Darin wurde auch die Teilnahme an Übungen anderer Truppenteile durch die Fallschirmjäger befohlen. In der Regel hatten sie die Aufgabe als Diversionstruppen zu handeln. Das entsprach den Einsatzgrundsätzen der Fallschirmjäger zu dieser Zeit und für die anderen übenden Truppen wurde somit ein realer Gegner dargestellt. Zur Teilnahme an solchen Truppenübungen wurde meistens nur eine verstärkte Fallschirmjägerkompanie eingeplant. Die Verstärkung bestand aus Teilen des Stabes und der Nachrichtenkompanie (in der Bundeswehr – Fernmeldekompanie) und je nach Aufgabe, aus Teilen des Sprengtaucherzuges und aus anderen Spezialisten.
Die Ausgangslage
Im verregneten Juni 1980 wurde die 1. Fallschirmjägerkompanie (die ersten Kompanien waren in der NVA ganz normale Kampfkompanien und hatten nicht die, in der Bundeswehr übliche, logistische Sicherstellung zu gewährleisten) und der Sprengtaucherzug als Kampfeinheiten sowie Teile des Stabes, der Transport- und Versorgungskompanie sowie der Nachrichtenkompanie, im Rahmen der Übung Zyklon 80, alarmiert und verlegten in einen geheimen Raum.
Die allgemeine Lage wurde wie folgt dargestellt:
Der Gegner wurde nach anfänglich zügigem Vorstoß auf unser Territorium auf der allgemeinen Linie WISMAR – LUDWIGSLUST – KYRITZ weiter südlich verlaufend, zum Stehen gebracht. Er befindet sich in einer Phase der Umgruppierung und Heranführung der zweiten Staffeln bzw. der allgemeinen Reserve der Armeen, um den Angriff in die Tiefe fortzusetzen. Die eigenen Truppen haben die Verteidigung organisiert, führen ebenfalls Reserven heran und bereiten sich auf weitere Verteidigungsgefechte mit der Absicht vor, mit Eintreffen der zweiten Staffeln der Armeen aus der Bewegung heraus anzugreifen und die alte Lage an der Staatsgrenze wieder herzustellen. Der Gefechtsauftrag der Fallschirmjäger bestand darin, das Heranführen der zweiten Staffeln und Reserven des Gegners zu verzögern oder zu desorganisieren, Verwirrung zu stiften, Gefechtsstände zu vernichten, Kernwaffeneinsatzmittel und Artilleriegruppierungen aufzuklären und bei Möglichkeit zu vernichten, sowie Dokumente zu erbeuten und Gefangene einzubringen.
Aus den Kräften des Fallschirmjägerbataillons wurden 4 Einsatzgruppen und eine operative Gruppe, für die Führung der Einsatzgruppen während der Gefechtshandlungen, gebildet. Die erste Einsatzgruppe, bestehend aus Oberleutnant Fischer (Big Fish) mit zwei Fallschirmjägern in zivilem Outfit, hatte die Aufgabe, das Wehrkreiskommando Schwerin, welches im Krisenfall das Arbeitsorgan des Vorsitzenden der Kreiseinsatzleitung (höchstes militärpolitisches Führungsorgan im jeweiligen Territorium) war, auszuheben. Es wurde angenommen, dass dieser Stab ein vergleichbarer Stab des Gegners sei. Zwei weitere Einsatzgruppen wurden von Oberleutnant Altmann und Walbe geführt. Deren Aufträge sind dem Autor heute nicht mehr bekannt. Die vierte Einsatzgruppe führte der Autor (damals Leutnant) selbst. Ihr Auftrag lautete: Vernichtung des Gefechtsstandes der PzDiv 40 (fiktive Bezeichnung) auf dem Marsch in den Konzentrierungsraum vor Einführung in das Gefecht.
Auf dem Weg zur Erfüllung des Gefechtsauftrages
Nachdem die Gefechtsaufträge klar, jedem Jäger sein Platz und seine Rolle im Unternehmen bekannt, alle eventuell (oder fast alle) auftretenden Zu- und Zwischenfälle geklärt waren, verlegten die Einsatzgruppen in den Nachtstunden auf den Flugplatz Neustadt-Glewe. Es war herrlichstes Fallschirmjägerwetter. Es regnete in Strömen, und Wolken waberten nur wenige Meter über die Erde dahin. Alle rechneten damit, mit dem Absetzflugzeug W-50 in 1,5 Metern Höhe, zum Einsatzort „zu fliegen“. Aber der Leiter Fallschirmdienst (Hauptmann Rudi Schwerin) hatte ein Fallschirmjägerherz und der Sprungeinsatz wurde frei gegeben. In den Sprungbüchern stand als Absetzhöhe 300 Meter, wahr ist aber, dass der Absprung bei 250 Meter statt fand, was bis dahin ein Novum für NVA-Fallschirmjäger war. Als die Schirme geborgen, nach einigen Kilometern „Fallschirmjägergalopps“ der Funkspruch über das erfolgreiche Eindringen abgesetzt war, besserte sich das Wetter und es wurde ein richtig warmer Sommertag. Bis in die Abendstunden wurde die Bewegung, unter der gebotenen Vorsicht im rückwärtigen Gebiet des Gegners, fortgesetzt, um den Raum der Basis zu erreichen. Die Aufklärung der näheren Umgebung, die Sicherung, das Feuersystem, die Varianten des Absetzens, wenn die Basis entdeckt werden sollte und was eben noch alles dazu gehörte, wurde durch den Einsatzgruppenführer organisiert. Das erste Späherpaar meldete bei seiner Rückkehr, dass in der Nähe der Basis ein Bauwagen der Deutschen Reichsbahn stehe und wohl am Tage Gleisbauarbeiten durchgeführt werden. Von dieser Baustelle wurden Spitzhacken und Spaten geholt und über Nacht eine ordentliche , gegen Boden- und Luftsicht getarnte, Basis errichtet. Allerdings ging bei der Arbeit ein Spaten zu Bruch. Eigentlich hätte dies ein sofortiges Verlassen der Basis zur Folge haben müssen, aber es war ja nur eine Übung. Nachdem die Wachen eingeteilt waren, befahl der Kommandeur Ruhe. Am Morgen wurde der Einsatzgruppenführer durch den ostwärtigen Posten nach vorn geholt. Die Arbeiter der Reichsbahn hatten die Bahnpolizei darüber informiert, dass jemand in der Nacht mit ihren Werkzeug gearbeitet hatte und dabei ein Spaten beschädigt wurde. Nun war es aber wirklich Zeit, den Platz sofort, unter Zurückhaltung eines Deckungstrupps, der bei einer Verfolgung falsche Spuren gelegt und die Verfolger auf sich gelenkt hätte zu verlassen. Interessant war aber die Reaktion der Bahnpolizei. Wie wir erwarteten, geschah von dieser Seite aus nichts! Der Vorarbeiter aber stellte zwei Mann ab, die den Wald durchstreiften. Sie entdeckten die Basis, wurden aber, ohne einen Laut zu geben, überwältigt und fest genommen. Im Ernstfall hätte sich der Führer etwas einfallen lassen und den Ort wechseln müssen. So ging der Einsatzgruppenführer mit den beiden Arbeitern zu ihrem Vorarbeiter, und man einigte sich freundschaftlich.
Von den Bauarbeitern bekam die Einsatzgruppe Benzin und Öl um Brandflaschen herstellen zu können. Dazu hatte sich der Kommandeur entschlossen, da keinerlei Waldbrandgefahr bestand. Nun war es an der Zeit, den Hinterhalt zu organisieren. Es war nur mit hoher Wahrscheinlichkeit bekannt, dass der Gefechtsstand in einem ganz bestimmten Wald unterziehen würde. Dieser Wald hatte nur zwei Zufahrten. Eine für Ketten- und Räderfahrzeuge günstige und eine ungünstige Zufahrt. So fasste der Kommandeur den Entschluss, die günstige Einfahrt in den Wald circa 100 Meter nach der Einfahrt zu verminen. Der Gedanke war der, dass die Kolonne in den Wald einfährt, gestoppt wird und die Masse der Kolonne, noch außerhalb des Waldes, zum Stillstand kommt und die Jäger leichtes Handeln hätten.
Der K(r)ampf
Die Einsatzgruppe bezog ihre Position zum Hinterhalt und wurde dafür in zwei Sicherungstrupps und einen Überfalltrupp gegliedert. Es wurde ein ziemlich starker Baum abgesägt und so an die Straße gestellt, daß er, nachdem seine Sicherung gelöst wird, auf die Straße fällt und die zum Stillstand gekommene Kolonne nicht mehr geradeaus ausweichen kann. Die Brandflaschen sollten durch einen Unteroffizier und einen Stabsgefreiten geworfen werden, die extra eingewiesen wurden, damit kein echter Brandschaden an der Gefechtstechnik entsteht. So verbrachten die Jäger eine lange Zeit im Hinterhalt. Plötzlich knackte es im Handfunksprechgerät. Sie kommen! Noch mal zischte es laut um die Aufmerksamkeit aller Jäger zu erhöhen.
Motorengeräusche, der erste SPW, was jedoch dann kam, war nicht der Gefechtsstand einer Panzerdivision, sondern eine Kompanie chemische Aufklärer. Aber diese wurde ganz blitzsauber vernichtet. Die Brandflaschen brannten gut auch wenn das Gras noch sehr nass war, auch der Baum fiel in die richtige Richtung und der Feuerüberfall war so, wie es den Jägern gelehrt wurde. Nach einer Minute war alles vorbei und die Einsatzgruppe in alle Winde verstreut auf dem Weg zum Sammelpunkt nach dem Hinterhalt. Zum Glück bekam der Führer noch zwei Jäger zu fassen und ließ sie am Ort des Hinterhalts zurück, damit sie die Beobachtung führen konnten, ob der Gefechtsstand in der Zeit den Ort passierte, in der der Hinterhalt neu organisiert wurde. Nach circa zwei Stunden war die Einsatzgruppe wieder am Ort.
Lageänderung
Nun entschloss sich der Einsatzgruppenführer, den Hinterhalt so weit vorzulegen (auch wenn dadurch die Entfernung des direkten Schusses unterschritten wurde und man dem „Gegner fast in die Reifen beißen“ konnte), daß die Jäger die Straße selber einsehen konnten und so eine Pleite nicht noch mal passiert. Vorher wurde noch die Straße gereinigt, denn dort lag ein breit gefahrener Baum. Ein neuer Baum (wesentlich kleiner als der Erste – heute dürfte man gar keinen Baum mehr fällen) wurde wieder an die Straße gestellt. Wir waren kaum 10 Minuten mit der Organisation des Hinterhaltes fertig, als die Kolonne gemeldet wurde. Allerdings nahm die Kolonne nicht den vom Kommandeur geplanten Weg, sondern fuhr auf dem ungünstigen, aber in diesem Fall sicheren Weg in ihren Konzentrierungsraum ein. Daraufhin wechselte die Einsatzgruppe in den Wald und bezog einen neuen Warteplatz.
Die Aufklärung wurde organisiert und ein Entschluss für einen Überfall gefasst. Es regnete schon wieder sehr stark. Der Gefechtsstand mit der operativen Zelle war in einem Hochwald, der durch einen gut befahrbaren Weg von einer Jungfichtenschonung getrennt wurde, untergezogen. Die Fallschirmjäger näherten sich kriechend und gleitend durch die regennasse Schonung, bis an den Weg an. Auf ein Zeichen des Einsatzgruppenführers erhoben sich alle Jäger und gingen völlig offen, begünstigt durch den starken Regen und die einsetzende Dämmerung, in den Hochwald. Auf Befehl, oder wenn die Jäger angeschossen / angesprochen worden wären, sollte das Feuer eröffnet werden. Die Jäger standen nach circa 30 Sekunden unerkannt hinter den Wachposten, neben der Nachrichtenzentrale und dem aufgeklappten Arbeitswagen des Divisionskommandeurs (ein Oberst).
Alles andere war Sache von Sekunden, und jeder einzelne Jäger hatte ein Erlebnis. Der Einsatzgruppenführer stand hinter einem Major, der, nachdem das Zeichen zur Feuereröffnung gegeben wurde, mit einem „Hechtsprung“ unter einen Jeep sprang. Dort holte der Führer der Einsatzgruppe ihn hervor und ließ sich zum Divisionskommandeur bringen. Der Kommandeur der Panzerdivision 40 hatte gerade keine Jacke an und Rasierschaum im Gesicht. Der Führer der Einsatzgruppe meldete ihm, dass sein Gefechtsstand mit dem operativen Kern ausgeschaltet, seine Nachrichtenzentrale zerstört und wichtige Dokumente durch die Jäger erbeutet worden waren. Des weiteren waren die Koordinaten seines Gefechtsstandes an den vorgesetzten Stab der Fallschirmjäger gefunkt worden.
Der Einsatzgruppenführer ließ sich die Vernichtung des Gefechtsstandes und des operativen Kerns auf seinem Dienstauftrag bestätigen. Danach begab er sich zum Sammelpunkt der Einsatzgruppe und bewegte sich mit ihr zum Platz der Wiederaufnahme. Der Hubschrauber aber kam nicht, dafür aber eine neue Koordinate für den Platz der Wiederaufnahme – 20 Kilometer entfernt. Ein Bauer hatte Mitleid mit den stoppelbärtigen Jungmännergesichtern und fuhr die Einsatzgruppe mit seinem Traktor mit Anhänger in die Nähe des angegebenen Platzes. Für den jungen Einsatzgruppenführer, als damals noch junger Leutnant, war das eine ziemliche Strapaze, nicht nur körperlich, sonder vor allem psychisch.
Schlussfolgerungen
Für eventuelle reale Handlungen im rückwärtigen Gebiet des Gegners zog der Einsatzgruppenführer seine Lehren. Er weiß, dass er eine Reihe von Fehlern beging, um im rückwärtigen Gebiet des Gegners mit seiner Einsatzgruppe zu überleben, ganz zu schweigen davon, Gefechtshandlungen erfolgreich durchführen zu können. Schon der abgebrochene Spaten war schlimm. Also – niemals fremdes Gut benutzen, wenn es nicht unbedingt nötig ist, denn von da an wären mit hoher Wahrscheinlichkeit Such- oder Jagdkommando ausgeschickt worden.
Nach dem Zusammentreffen mit den Arbeitern der Reichsbahn wäre die Erfüllung der Gefechtsaufgabe gefährdet gewesen. Jeder Einzelkämpfer muss sich mit der Frage auseinander setzen, wie er sich in einem Falle verhält, wenn ihm auf dem eigenen Territorium , Bürger seines Staates bei der Erfüllung von Gefechtsaufgaben entdecken. Er weiß nie, ob sie ihm wohl gesonnen sind oder nicht. Dann der missglückte Hinterhalt und zum Schluss die Fahrt mit dem Traktor. In Übungslagen kann so etwas passieren, tolerieren sollte der Vorgesetzte und Ausbilder dieses Verhalten jedoch nicht. Ja, es war nur eine Übung und kein Krieg, den wir hoffentlich nicht erleben werden. Der Einsatzgruppenführer war jung und unerfahren, was ihm im Ernstfall aber keiner nachgesehen hätte. Es bewahrheitet sich: „Lieber tausend Tropfen Schweiß im Frieden, als ein Tropfen Blut im Krieg.“.
Jörg Kuhnt