Truppenübung „Nordwind“
Im September des Jahres 1982 wurden Teile des Fallschirmjägerbataillons-40: eine Fallschirmjägerkompanie ; Teile der Stabs- und der Nachrichtenkompanie sowie Teile der Kompanie Materielle Sicherstellung in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzt. Die Offiziere mussten einrücken und bekamen nach meiner Erinnerung etwa folgende Lage geschildert:
„Beginn der Spannungsperiode zwischen der NATO und den Staaten des Warschauer Vertrages vor T.-45. Dafür wurden 1 – 2 Monate vor Beginn der offenen Feindseligkeiten veranschlagt…“ .
Denn Rest schenke ich mir, sind sich doch die großen Strategen heute noch nicht einig, wie eine solche Spannungsperiode wirklich abgelaufen wäre und ich hoffe, dass sie auch in Zukunft keine praktischen Erfahrungen sammeln können. Fakt ist eins, Truppen wie das KSK, SAS, Seal´s, Speznas der Russischen Streitkräfte, Special Force und damals sicher auch das FJB, wären bereits vor dem Tag x im Einsatz gewesen. Sei es nun um Schutz- und Evakuierungsmaßnahmen durchzuführen, bestimmte Objekte auszuspähen oder zu vernichten oder aber bestimmte zivile oder militärische Stäbe oder militärische oder zivile Einrichtungen unschädlich zu machen.
Die „Feindseligkeiten“ sind also ausgebrochen. Die oben genannten Kräfte wurden der 5. Armee (Nord), zur besonderen Verfügung unterstellt. Der Gegner bestand also aus Teilen der NATO – Streitkräfte Ostseeausgänge (genau Stärke zu jener Zeit – im Anhang) und hatte natürlich die Staatsgrenze zur DDR überschritten. Seine Hauptstoßrichtung zielt vermutlich in Richtung südlich WISMAR weiter in Richtung ROSTOCK zur Einnahme der Hafenanlagen um ein Heranführen von strategischen Reserven über die Ostsee zu erschweren. Sollte ihm die Erreichung dieses Zieles nicht möglich sein, ist mit einem Kernwaffeneinsatz auf besagtes Ziel zu rechnen. Die erste operative Staffel unserer Verteidigung befindet sich im Gefechten auf der Linie GREVESMÜHLEN, GADEBUSCH, HAGENOW, LUDWIGSLUST. Die zweiten Staffel der Division werden gegenwärtig in das Gefecht eingeführt. Aufgabe der zu bildenden Einsatzgruppen ist es, aufzuklären:
1. Gefechtsstände ab Brigade aufwärts
2. Artilleriestellungen ab Brigade aufwärts (Hierzu zählten auch die Abschussrampen der operativ – taktischen Raketen „Lance“, die ja für die Führung von Kernwaffenschläge prädestiniert ist.)
3. Andere Kernwaffeneinsatzmittel (diese sind bei Möglichkeit, sofort zu vernichten oder zu beschädigen)
4. usw. usf.
Ich war damals Kompaniechef. Aus meiner Kompanie wurden sechs Einsatzgruppen in unterschiedlicher Stärke gebildet und jede hatte eine andere Aufgabe. Nun war es ja eigentlich eine Übung. In einem Krieg ist es schlechterdings unmöglich, sechs Einsatzgruppen in einem so beengten Raum einzusetzen, denn dann hätte wahrscheinlich keine die Möglichkeit, ihre Aufgabe zu erfüllen. Irgend etwas geht immer schief und die Jagdkommandos, als auch jeder Soldat hätte uns das Leben durch seine „Übervorsicht“ schwer gemacht.
Als realer Gegner stand uns gegenüber: die 5. Raketenbrigade die eine Übung durchführte, als auch Teile der 8. Mot-Schützendivision, die eine Kommandostabsübung mit teilnehmenden Darstellungseinheiten durchführte. Dabei war ein Regiment, dass seine Regimentsübung absolvierte. All diese Einheiten waren instruiert, dass reale „Diversionstruppen“ handeln werden und waren hoch motiviert, diese gefangen zu nehmen. Wir verlegten in einen geheimen Raum in der Nähe von Leipzig und bereiteten unsere Einsatzgruppen (EG) auf ihre Aufgaben vor. Ich hatte mit meiner EG den Auftrag, den Stab der Raketenbrigade und den Raum der chemischen Spezialbehandlung aufzuklären.
Grundsätzlich wurde nämlich auch der Einsatz unter Bedingungen des Kernwaffeneinsatzes trainiert. Und dazu benötigt man den „Platz der chemischen Spezialbehandlung und Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft“. An die Gefechtsaufgaben der anderen EG´s kann ich mich nicht mehr erinnern. Normalerweise führte ein junger Leutnant diese EG. Aber er war gerade von der Offiziershochschule zu uns gekommen und hatte in seiner Praktikumszeit noch nicht einmal eine Mehrtägige Ausbildung mitgemacht.
Wie sich später herausstellte war er ein guter Offizier, aber zu diesem Zeitpunkt konnte ich ihn noch nicht richtig einschätzen. Deshalb bat ich den Kommandeur die EG selber führen zu dürfen. Die EG bestand aus sieben Soldaten, einem Uffz., dem jungen Leutnant und mir. Von vornherein teilte ich die EG in zwei Gruppen, da ich ja, was unüblich ist, einen zweiten Offizier in der EG hatte. Der Leutnant sollte mit dem Uffz. und fünf Soldaten den wesentlich größeren Raum aufklären, in welchem sich der Platz der Spezialbehandlung befinden sollte.
Mein Entschluss, die Gruppe zu teilen, fand bei der Entschlussmeldung beim Kommandeur erst keine Billigung. Ich musste ganz schön kämpfen um den Entschluss bestätigt zu bekommen. Ich ging davon aus, dass der Raum zwar sehr groß sei, er aber in der Tiefe des Gegners liegt, in dem keine unmittelbaren Handlungen stattfinden, sondern hauptsächlich die Straßen und Wege vom Gegner benutzt werden. Es gibt immer eine solche Zone, in der die höheren Stäbe mit ihren vielen Bewegungen und vor allem noch keine Sicherungssoldaten sind und die von den Kampftruppen schon wieder verlassen wurde. Da dieser vermutete Raum wesentlich größer war als der Raum, in welchem wahrscheinlich der Gefechtsstand der Raketenbrigade untergezogen war und die Aufklärung des Gefechtsstandes eigentlich die wichtigere Aufgabe war, übernahm ich diese Aufgabe mit zwei Soldaten selber.
Wir starteten im Morgengrauen und flogen in nordwestliche Richtung. Der Absprung aus 400 m Höhe und die Landung ging glatt. Wir bezogen einen Warteplatz (WaPl), nach dem wir auf dem Weg dahin verschiedene Sammelpunkte festgelegt hatten, die wie üblich, zu bestimmten Zeiten über einem Punkt anzulaufen sind. Dazu dienen z.B. ein kleiner Steinhaufen oder an einen Baum gelehnter Ast usw., der bei Verlassen des Sammelpunktes (SaP) oder wenn der Gegner sich den Sammelpunkt entdeckt hat, zu zerstören ist, damit kein Fallschirmjäger diesen mehr anläuft, sondern sich gleich zum nächsten SaP bewegt. Dabei ist durch den ersten Fallschirmjäger der den Sammelpunkt erreicht, dieser aufzuklären und jeden weiteren Fallschirmjäger bis zum Eintreffen eines Vorgesetzten in seine Sicherungsaufgabe einzuweihen.
Also aus dem Warteplatz heraus wurde die unmittelbare Aufklärung organisiert. Es wurden Zeiten ausgemacht, in denen sich die EG wieder vereinigen sollte und wir marschierten ab. Nun kennt jeder Fallschirmjäger die verschiedenen Varianten, wie man sich im rückwärtigen Gebiet des Gegners bewegt. Die Variante, die ich immer bevorzugt habe, die aber viel Zeit erforderte, war die, die EG in einen Sicherungstrupp, den Kern und einen Deckungstrupp aufzuteilen. Dabei besteht der Sicherungstrupp aus zwei Soldaten und der stellvertretende EG-Führer ist Führer des SiTr . Der Deckungstrupp besteht ebenfalls aus zwei Soldaten. Der Rest der EG befindet sich im Kern der EG. Verbindung besteht über Handfunkgeräte oder wenn möglich über Handzeichen.
Die Möglichkeit des Einsatzes von Seitenspähern ist natürlich gegeben, wenn es die Geländesituation erfordert. Die Bewegung geschieht sehr langsam unter ständiger Beobachtung und Vermeidung sämtlicher Spuren, abseits von Wegen. Bei dieser Art der Bewegung ist es natürlich klar, dass man in der Stunde nur 1 – 2 km zurücklegen konnte. Aber wann ist das schon möglich. In der Regel wurden 3 – 4 km in der Stunde bewältigt. Auch hier wurden immer wieder SaP´s festgelegt. Auch die Verhaltensweisen beim Bilden eines Feuersackes waren abgesprochen. Die zweite, nicht fallschirmjägertypische Bewegungsform ist das „Rammeln“ durch das Gelände, was natürlich jedem Jagdkommando sehr zur Freude gereichen würde. Wir nannten das damals „Fallschirmjägersprint“. Klar, wenn man durch einen Helicopter nur zwei bis drei km neben dem Überfallobjekt abgesetzt wird, dann gibt es nur eins, ran und vernichten. Hier bedarf es aber einer Aufklärungskomponente, die bereits am Objekt ist und sämtliche Aufklärungsergebnisse an die stürmenden Fallschirmjäger durchgegeben wurden. Ansonsten ist das Fiasko vorprogrammiert.
Also, die zwei Soldaten und ich befanden uns auf dem Wege zu dem durch uns aufzuklärenden Raum. Schon auf dem Weg dahin hätten wir eine Reihe Sabotageakte durchführen können. Jede Menge Kabel lagen an den Wegesrändern. Wir hätten diese durchtrennen können oder durch versteckte Ladungen, die bei der Aufnahme der Kabel durch die Leitungsbautrupps dem Gegner Verluste zufügen. Aber wir wollten ja unerkannt bleiben. Wir fanden also viele Hinweise und hielten uns auch immer in der Nähe von Fernmeldeleitungen und offen verlegten Stromversorgungskabeln auf. Einige Bereitstellungen konnten wir aufklären aber den Gefechtsstand der Raketenbrigade fanden wir nicht.
Langsam wurde uns die Zeit knapp und ich befahl den beiden Soldaten, den Rückmarsch zum WaPl. anzutreten. Sie sollten dem Leutnant Eickel mitteilen, dass ich selber zwei weitere Stunden aufklären wollte und ich mich mit der EG zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten SaP treffen werde, der in der Nähe des Platz der Wiederaufnahme (PdW) liegt, die EG also bereits den Rückweg antreten kann. Und es dauerte auch gar nicht mehr lange, als ein Leitungsbautrupp Leitungen aufnahm.
An Hand des taktischen Zeichens auf dem Fahrzeug erkannte ich, daß dieser Leitungsbautrupp zum Gefechtsstand der gesuchten Raketenbrigade gehörte. Ich versteckte mich also hinter Sträuchern und wartete bis der Soldat der ca. 50 m vor dem Lkw marschierte um die Leitung von Hindernissen zu befreien. Als er auf meiner Höhe war, trat ich aus meiner Deckung, ohne das man mich vom Lkw aus sehen konnte und drückte ihm die Pistole in den Rücken. Auf meine Anweisung hin rief er seinen Truppführer zu sich heran. Dieser kam auch und wurde ebenfalls von mir festgenommen. Der Truppführer ließ den Lkw herankommen. Auch der Fahrer wurde festgenommen. „Es war ja nur eine Übung“. Ich fesselte den Truppführer und den Soldaten und befahl dem Lkw-Fahrer mich in die Nähe des Gefechtsstandes zu fahren. Das war übrigens der einzige, der sich zur Wehr setzte. Ich sagte den Gefangenen, die ich in den Wald schleifte, daß ich sie nach Erfüllung meiner Aufgabe abholen würde. Als ich mich in die Fahrerkabine setzte machte ich den Fund der ganzen Übung. Eine GVS – Karte (GVS = Geheime Verschlußsache) lag offen in der Fahrerkabine. Auf ihr waren alle Stellungen und Gefechtsstände der Raketenbrigade, für die gesamte Übung eingezeichnet. Damit war meine Aufgabe eigentlich erfüllt. Trotzdem überprüfte ich noch den derzeitig gültigen Unterbringungsraum für den Gefechtsstand und er stimmte. Anschließend fuhr ich zurück und nahm die Gefangenen auf.
Durch das Fahrzeug mit gültiger Feindkennung gelangte ich auch in die Nähe (5 km) des SaP, wo ich auf die EG traf und wir diesen Raum sofort verließen. Als die EG bereits im PdW lag und alles für die Aufnahme mit dem Hubschrauber fertig war, kam der Hauptschiedsrichter (ein Oberst) der Raketenbrigade, in rasantem Tempo vorgefahren und rief „… wo ist der Oberleutnant ?…“ Ich meldete mich bei ihm und er stauchte mich zusammen, weil ich ein GVS-Dokument entwendet hätte. Nun ja, ich übergab ihm das Dokument, teile ihm aber mit, das alle Angaben (natürlich verschlüsselt) an ,meinen vorgesetzten Stab gefunkt worden seien. Er schnaufte wütend – er wolle mich bestrafen lassen – und war wieder verschwunden. Ich wurde auch durch meinen Kommandeur bestraft, allerdings mit einem Augenzwinkern. Zwei Wochen darauf wurde ich durch den Kommandeur mit „Streichung einer Strafe“ belobigt. Der andere Teil der EG hatte seine Aufgabe auch erfüllt und so waren wir eigentlich ganz zufrieden. In der NVA wurde der Umgang mit VS-Dokumenten zu einem wahren Kult getrieben. Für die „popligste“ Landkarte (Generalstabskarte), die man heute in jeder guten Buchladen kaufen kann, musste man Unterschriften leisten und wenn man sich außerhalb des militärischen Objektes bewegte, eine Waffe (meist Pistole) mitführen. Das war grässlich.